Nutzen und Schaden von Interventionen

An dieser Stelle sollen vor allem die derzeit praktizierten sogenannten „nicht-pharmakologischen“ Interventionen (NPI) wie Maßnahmen des „Social Distancing“ erörtert werden, also z.B. staatlich angeordnete Interventionen von der Schließung von Bildungseinrichtungen bis hin zur Verpflichtung, einen Mund-Nasenschutz zu tragen.

Insgesamt gibt es nach wie vor wenig belastbare Evidenz, dass NPIs bei COVID-19 tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen. Eine rezente Analyse von Daten aus 149 Ländern zeigte eine relative Reduktion der COVID-19-Inzidenz um nur 13% durch vier Maßnahmen: Schulschließung, Schließung von Arbeitsplätzen, Verbot von Massenveranstaltungen und Einschränkung der Bewegungsfreiheit (Lockdown) [14]. Aus der Studie lässt sich aber nicht ableiten, ob der Rückgang nicht auch ohne Maßnahmen eingetreten wäre, da es keine entsprechende Vergleichsgruppe gibt. Eine amerikanische Studie fand einen Zusammenhang zwischen der COVID-19-Inzidenz und der am 23. März in 22 Staaten ausgegebenen „Stay-at-home-order“ sowie der am 3. April verordneten Maskenpflicht [15]. Ein aktueller Cochrane Review stuft die vorliegende Evidenz zu Quarantäne alleine oder in Kombination mit anderen Maßnahmen als niedrig bis sehr niedrig ein [16].

So ist auch unklar, ob die von März bis Mai dauernden Schulschließungen in Deutschland oder Österreich einen relevanten Effekt auf den Verlauf der Epidemie hatten. Eine US-amerikanische Studie fand zwar einen deutlichen Zusammenhang zwischen COVID-Inzidenz und Schulschließung, gibt aber zu bedenken, dass die Effekte nicht von anderen NPI-Maßnahmen zu trennen sind [17]. In einem JAMA-Editorial wird auf die unabsehbaren negativen Effekte von Schulschließungen hingewiesen [18]. Mehrere an Schulkindern erhobene Prävalenzstudien haben gezeigt, dass Kinder nicht oder nur selten an COVID erkranken. Beispielsweise fand eine sächsische Studie, welche die Schulöffnung in Sachsen von Anfang Mai bis Ende Juni begleitete, bei 2.599 mit PCR getesteten Kindern und Lehrkräften keinen einzigen Test-positiven. Die Seroprävalenz lag auch nur bei 0,6%, wobei hier in erster Linie Erwachsene betroffen waren [19]. Auch eine Modellierung der Einflüsse verschiedener NPIs auf die Infektionszahlen fand für Schulschließungen den geringsten Effekt [20].

Für die derzeit noch vorgeschriebene Verpflichtung zum Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes gibt es widersprüchliche Daten. Ein Systematic Review, der für das Community Setting zwei randomisierte kontrollierte Studien ausreichend hoher Qualität einschloss, attestiert dem Mund-Nasen-Schutz im Community-Setting eine Reduktion der Infektionszahlen um relativ 17% [21]. Im Gesundheitsbereich wurde für die üblichen chirurgischen Masken eine relative Risikoreduktion von 88% errechnet, und N95 Masken reduzieren das Risiko gegenüber den chirurgischen Masken nochmals relativ um 22% [21]. Ein anderer systematischer Review, der jedoch nur Beobachtungsstudien einschloss, fand ebenfalls eine relative Risikoreduktion von etwa 85%. Die Autoren geben die überwiegend niedrige Studienqualität zu bedenken und stufen die Evidenz bei hoher Studienheterogenität (I²=73%) als sehr niedrig ein [22]. Wieder ein anderer Review fand bei 6.500 Teilnehmern von 10 randomisierten kontrollierten Studien keinen signifikanten Effekt von Mund-Nasen-Schutzmasken auf die Übertragungsrate von Influenza [23]. Alle relativen Risikoreduktionen werden ohnehin bedeutungslos, wenn das absolute Risiko niedrig ist. Derzeit gibt es in Deutschland eine kumulative 7-Tage-Inzidenz von etwa 10 Test-positiven pro 100.000 Einwohner (Stand 2.9.2020, RKI), in der Schweiz von 24 pro 100.000 Einwohner (Stand 2.9.2020, täglicher Situationsbericht des Bundesamtes für Gesundheit) und in Österreich 27 „aktive Fälle“ pro 100.000 Einwohner ohne Zeitangabe (Stand 2.9.2020, amtliches Dashboard des Gesundheitsministeriums). Es ist also sehr unwahrscheinlich, einem Test-positiven zu begegnen, so dass selbst eine relative Risikoreduktion von 88% zu einer verschwindend geringen absoluten Risikoreduktion wird. Ob es im kommenden Herbst und Winter sinnvoll werden wird, einen Mund-Nasenschutz in geschlossenen öffentlichen Räumen zu tragen, wird man von der weiteren Entwicklung des epidemiologischen Geschehens abhängig machen müssen.

In jedem Fall sind dringend entsprechende randomisierte kontrollierte Studien zu fordern, um dort, wo es möglich ist, die Wissenslücken zu schließen und herauszufinden, welche Maßnahmen wirklich sinnvoll und nützlich sind, aber auch um sicherzustellen, dass die politisch angeordneten Maßnahmen nicht möglicherweise mehr schaden als nutzen (allein dadurch, dass beispielsweise ineffektive Maßnahmen eingehalten und die wirklich wirksamen missachtet werden).

Bezüglich aller diskutierten oder derzeit eingesetzten Maßnahmen des Social Distancing und des epidemiologischen Geschehens fordern wir eine angemessene, verständliche und den Bezug zur Bevölkerungszahl herstellende Risikokommunikation und verweisen hier auf unsere diesbezügliche Stellungnahme [24].