Einige Rückmeldungen zur Stellungnahme des EbM-Netzwerks kritisierten, dass die Evidenz zur Quarantäne fälschlich unterbewertet worden sei.
Nussbaumer-Streit et al. (2020)1 haben ein Cochrane Rapid Review zu dieser Fragestellung publiziert. Die Zielpopulation waren Personen mit Kontakt zu bestätigten oder mutmaßlichen Covid-19 Fällen, Personen, die aus Ländern mit einem Infektionsausbruch anreisen oder Personen, die in Regionen mit hoher Infektionsrate leben. Eingeschlossen wurden 51 Studien, darunter acht Beobachtungsstudien und 43 Modellierungsstudien. In 32 Studien ging es um Covid-19, in den restlichen um MERS und SARS. In allen Studien wurde Quarantäne allein oder in Kombination mit anderen Public Health Maßnahmen hinsichtlich des Ausmaßes an Wirksamkeit auf die Ausbreitung von Covid-19 untersucht.
Die Vertrauenswürdigkeit der Studien ist eingeschränkt, u.a. da es den Kohortenstudien an einer Kontrollgruppe fehlt, Studien zu MERS und SARS nur indirekte Evidenz darstellen und Modellierungsstudien mit diversen Annahmen zu Modellparametern arbeiten, die unzutreffend sein können, u.a. in Anbetracht fehlender valider Schätzungen der wahren Prävalenz von Covid-19. Die Einschätzung der internen Validität der Modellierungsstudien legt für den überwiegenden Anteil ein mittleres (n=18) bis sehr hohes Risiko (n=12) für methodische Verzerrungen nahe. Den Beobachtungsstudien wird ein mittleres (n=6) bis sehr hohes Risiko für Bias (n=2) bestätigt.
Dementsprechend vorsichtig müssen die Ergebnisse der Evidenzsynthese interpretiert werden. Hier liegt eben keine Evidenz aus prospektiven kontrollierten Studien vor, in der unterschiedliche Strategien miteinander verglichen werden.
Die Modellierungsstudien legen nahe, dass Quarantäne die gewünschten Effekte – Reduktion der Neuinfektionen und Todesfälle sowie der Reproduktionsrate – haben kann. In Kombination mit anderen Public Health Maßnahmen (Schulschließungen, sozialer Distanz, Reisebeschränkungen) könnten die Effekte womöglich größer sein.
Das wahre Ausmaß der Effekte ist unsicher. Unerwünschte Wirkungen der Quarantäne auf die Gesundheit, die soziale und ökonomische Situation werden im Review nicht berücksichtigt.
Insgesamt gesehen ist die wissenschaftliche Beweislage zur Quarantäne unbefriedigend und sollte Anlass geben, umgehend solide prospektive Studien zu initiieren. In ihren methodischen Forderungen gehen die Autor*innen des Cochrane Reviews nicht so weit, randomisierte kontrollierte Studien zu fordern, jedoch gut geplante quasi-experimentelle Studien, die belastbarere Aussagen zum kausalen Zusammenhang der Interventionen erlauben.
Der Rapid Review ist öffentlich zugänglich, neben anderen Cochrane Reviews zur nicht-pharmakologischen Infektionskontrolle von Covid-19 und anderen respiratorischen Infektionen: https://www.cochranelibrary.com/covid-19#Cochrane%20Reviews.
Kurze Evidenzsynthesen werden auch auf der Webpage des Kompetenznetzes Public Health Covid-19 bereitgestellt: https://www.public-health-covid19.de/en/results.html.
Referenz
Prof. Dr. phil. Gabriele Meyer Mitglied des geschäftsführenden Vorstands des EbM-Netzwerks |
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen |
Zum Kritikpunkt "Quarantäne" als PDF