Es wurde kritisiert, dass das EbM-Netzwerk RCTs (randomisierte kontrollierte Studien) fordert, um die Wirksamkeit von präventiven Maßnahmen zu untersuchen. Einerseits seien RCTs zu solchen Maßnahmen kaum praktisch durchführbar, andererseits seien die bereits vorhandenen Daten hinreichend aussagekräftig. Auch lasse sich die Wirksamkeit der getroffenen Maßnahmen insbesondere daraus ableiten, dass die Pandemie in Deutschland günstiger als in anderen Staaten verlaufen sei.
Es ist unzweifelhaft, dass die Neuartigkeit von COVID-19 es initial erforderlich gemacht hat, weitreichende Entscheidungen zu Prävention, Diagnose und Therapie zu treffen, ohne das übliche Maß an wissenschaftlichen Daten verfügbar zu haben. Dieser Zustand der akuten Gefahrenabwehr kann jedoch nicht mittel- oder langfristig weitergeführt werden, sondern das Agieren muss auch von Evaluieren begleitet werden. Dies gilt auch für die nicht-pharmakologischen Interventionen (NPI), die vor einer Infektion schützen sollen.1
Wie in der Stellungnahme erläutert, wurde die Wirksamkeit von Mund-Nase-Schutzmasken in zahlreichen RCTs untersucht – allerdings bei anderen viralen Atemwegserkrankungen, nicht bei der SARS-CoV2-Infektion. Daher werden international RCTs hierzu explizit gefordert2 und inzwischen auch durchgeführt3. Mancherorts können RCTs (zumindest solche zur COVID-19-Therapie im Krankenhaus) binnen 2 Wochen geplant und gestartet werden4. Retrospektive Beobachtungsstudien sind zwar bislang oft schneller und einfacher umzusetzen, dafür aber mit erheblichen Unsicherheiten behaftet5. Weil Präventivmaßnahmen vor allem in schwerer betroffenen Regionen angewendet werden, können die schlechteren lokalen Bedingungen, die zur regionalen Ausbreitung von Corona beitrugen, auch die Wirkung der Präventivmaßnahmen hemmen, sodass deren Wirkung im Vergleich zu anderen Regionen unterschätzt wird. In diesem Sinne kann beispielsweise die Akzeptanz von Mund-Nase-Masken aufgrund sozialer oder kultureller Faktoren zwischen verschiedenen Regionen differieren. Dies zeigt insgesamt, dass hochwertige Evidenz zum Tragen von Mund-Nase-Masken sinnvoll, machbar und notwendig ist. Gleichwohl sind Beobachtungsstudien zur ersten Effektabschätzung hilfreich und in jedem Fall besser, als ganz ohne Evidenz entscheiden zu müssen.
Maßnahmen auf Bevölkerungsebene können durch Randomisieren von sogenannten „Clustern“ untersucht werden. Dies bedeutet, dass in einigen Regionen bestimmte Maßnahmen durchgesetzt werden, während dies in anderen Regionen nicht erfolgt. Die vergleichende Beobachtung verschiedener Länder oder Regionen (ohne Randomisierung) deutet zwar darauf hin, dass Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung die Ausbreitung der Infektion etwas reduziert haben 6. Es ist jedoch schwer, anhand einfacher Beobachtungsdaten einzelne Maßnahmen zu beurteilen, wie z. B. das Einstellen des öffentlichen Personenverkehrs oder das Schließen aller Schulen7. Da die Effekte der Maßnahmen unsicher und vermutlich zum Teil gering sind, wäre es ethisch vertretbar und wissenschaftlich wünschenswert, präventive Maßnahmen in cluster-randomisierten Studien zu untersuchen.8, 9 Beispielsweise könnte man per Zufall auf Landkreis- oder Bundesland-Ebene entscheiden, ob und vor allem in welcher Form Schulunterricht stattfindet.10 Auch für die Gastronomie oder den Kulturbetrieb wären randomisierte Studien in dieser Form denkbar. Zum Wiederöffnen von Fitness-Studios und Sportanlagen gibt es bereits eine norwegische Studie, in der fast 4000 Einzelpersonen randomisiert wurden.11
Nur durch solch bewusstes „Experimentieren“ lernt die Menschheit besser mit der jetzigen und mit zukünftigen Pandemien umzugehen.12 Solche Studien setzen aber voraus, dass man sich selbst und der Bevölkerung ehrlich und mutig eingesteht, die Wirksamkeit einer Maßnahme nicht näher abschätzen zu können. Das EbM-Netzwerk hat mit seiner Stellungnahme dazu aufgerufen, stärker in dieser Richtung zu denken und zu handeln – nämlich dass dringend bessere Evidenz geschaffen wird. Dies halten wir weiterhin für richtig und wichtig.
Referenzen
Prof. Dr. med. Stefan Sauerland Beisitzer im geschäftsführenden Vorstand des EbM-Netzwerks |
Prof. Dr. med. Andreas Sönnichsen Vorsitzender des EbM-Netzwerks |
Erwiderung zum Kritikpunkt "Geforderte Studien unrealistisch" als PDF