Aufruf: Nationale Taskforce „COVID-19-Evidenz“

25.03.2020. Das EbM-Netzwerk, das QUEST Center am Berlin Institute of Health (BIH) und die Akademie für Ethik in der Medizin (AEM) fordern eine professionelle Priorisierung, Koordinierung und Kommunikation der Forschung zu Nicht-Pharmakologischen Interventionen (NPI).

Es bedarf einer möglichst schnellen und professionellen Klärung dazu, ob die in Kraft gesetzten Nicht-Pharmakologischen Interventionen (NPI) wie Schulschließungen und Kontaktrestriktion die erwünschte Wirksamkeit zeigen und zugleich die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen rechtfertigen.

Deshalb sollte schnellstmöglich eine Taskforce ähnliche Struktur aufgebaut bzw. in eine existierende Taskforce wie dem RKI eingebaut werden, die festlegt, welche Daten mit welcher Priorität und welcher Qualität zum Thema COVID-19 benötigt werden. Wenn diese prioritär benötigten Daten nicht vorliegen, müssen sie in Deutschland schnellstmöglich im Sinne einer „Evidenzverordnung“ generiert werden. Die Taskforce muss deshalb neben einer Priorisierung auch die Koordinierung der benötigten Forschung übernehmen. Weiterhin muss die Gesellschaft über diese Aktivitäten und die daraus resultierende Evidenz wissenschaftsbasiert, verständlich und objektiv informiert werden.

Auswahl und Abwägung von Evidenz in einem anhaltenden Notfall

Die Bewertung der Verhältnismäßigkeit von Nutzen und Schaden von NPIs verlangt zwei Schritte. Erstens, die Auswahl der relevantesten und verlässlichsten Daten (Evidenz) zur Wirksamkeit und zum Schaden der NPI. Zweitens, eine (Güter-) Abwägung dieser äußert komplexen und allesamt existenziell bedeutsamen Informationen. Beide Schritte bedürfen einer professionellen Umsetzung, die charakterisiert ist durch eine den Umständen angepasste, aber dennoch bestmögliche Objektivität, Systematik und Transparenz.

In einer Notfallsituation ist diese Anforderung an professionelles Handeln besonders schwer umzusetzen. Es steht nur sehr wenig Zeit zu Verfügung, um Daten auszuwählen und Güter-Abwägungen in Absprache mit einigen wenigen Involvierten zu treffen. Dazu kommt, dass zu vielen anstehenden Entscheidungen oft nur wenige passgenau und relevante Daten zur Verfügung stehen.

Die aktuelle COVID-19 Bedrohung in Kombination mit den bereits laufenden und möglicherweise noch kommenden NPI ist keine Notfall-Situation mehr, sie ist eine anhaltende, schwere nationale (und internationale) Krise, die uns noch über Jahre beschäftigen wird. Die politischen Entscheidungsträger werden über die nächsten Monate fast täglich mit komplexen Entscheidungen zu COVID-19 und NPI konfrontiert. Die Gesellschaft muss diese Entscheidungen in ihren wesentlichen Begründungen nachvollziehen können.

Welche Evidenz wird benötigt?

Es soll die Aufgabe einer interdisziplinär besetzten Taskforce sein, die Forschung zu definieren, die benötigt wird, um die Wirksamkeit und den Schaden der NPI bestmöglich bewerten zu können.

Zusätzlich zu den kontinuierlich aktualisierten Zahlen für bestätigte Infektionen und Todesfälle könnten Kohortenstudien zur Untersuchung der bevölkerungsweiten Infektionsrate auch in symptomfreien Personen hilfreich sein. Sollte bereits der Großteil der deutschen Bevölkerung infiziert sein, sind NPI wie Schulschließungen oder Kontaktrestriktionen nur von begrenzter Wirksamkeit. Zugleich liefern diese Kohortenstudien Daten dazu, wie wirksam die NPI über die Zeit sind und wann ein guter Zeitpunkt ist, sie zu beenden.

Des Weiteren müssen die unerwünschten aber unvermeidbaren gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Nebenwirkungen der NPI untersucht werden. Gerade weil es so verschiedene Typen von unerwünschten Nebenwirkungen geben kann, bedarf es auch hier einer professionellen Priorisierung unter Einbindung verschiedener Fachbereiche und Repräsentanten verschiedener Bevölkerungsgruppen.

Zentral und dezentral

Eine zentrale Taskforce schließt natürlich nicht aus, dass es ergänzende, dezentrale Forschungsaktivitäten gibt. Im Gegenteil sollte es ein Teil der professionellen Koordinierung sein, dass unabhängige Forschungsprojekte zu COVID-19 wie über die aktuellen Ausschreibungen des BMBF und der DFG ermöglicht werden. Diese wertvolle dezentrale Forschung ersetzt aber nicht eine zentral priorisierte, koordinierte und kommunizierte Forschung zu den NPI.

Es gibt weitere Forschungsbereiche zur Wirksamkeit und Sicherheit von Impfstoffen, Virustatika sowie intensivmedizinischen Maßnahmen, die für die Prävention und (Akut-) Therapie von COVID-19 essentiell sind. Ob eine nationale Taskforce „COVID-19-Evidenz“ auch für die Priorisierung, Koordinierung und Kommunikation dieser Forschungsbereiche sinnvoll wäre, sollte separat adressiert werden.

Evidenz und Ethik

Aufgabe einer nationalen Taskforce „COVID-19-Evidenz“ wäre es auch, frühzeitig mit zu berücksichtigen, welche ethischen Herausforderungen durch diese nationale Notfall-Forschung entstehen. Zum Beispiel muss in der Kommunikation berücksichtigt werden, dass die Ergebnisse von Infektionsraten in bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht zu einer Stigmatisierung oder Diskriminierung führen.

Ethische Herausforderungen ergeben sich zudem bei der Güterabwägung auf der Basis der relevanten Daten. Wie sind die zu erwartenden positiven Effekte von NPI (z.B. Verlangsamung der Infektionsrate, Senkung der Todesfälle) abzuwägen mit den negativen Effekten (z.B. finanzielle Krisen von Unternehmen und Privathaushalten, psychosoziale Krisen, Verschärfung sozialer Ungleichheiten)? Die Abwägungen sind unvermeidbar mit Werturteilen verbunden. Diese Werturteile werden aber umso objektiver und nachvollziehbarer je besser sie sich auf relevante und verlässliche Daten zum Ausmaß der positiven und negativen Effekte beziehen können.

Evidenz für folgende Pandemien

Die Erfahrungen und die Ergebnisse einer nationalen Taskforce „COVID-19-Evidenz“ sind nicht nur für die aktuelle Pandemie relevant, sondern ebenfalls für langfristige Planungen und zukünftige Notfallsituationen. 

 

Zum Aufruf auf Deutsch (beim BIH)

Call in Englisch

 

Nur einen Moment..
Wird geladen