COVID-19: Wo ist die Evidenz?

20.03.2020. Weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen gibt es bisher belastbare Evidenz. Dies ist Anlass für das EbM-Netzwerk, sich mit der COVID-19 Pandemie auseinanderzusetzen.

Als Ende Dezember 2019 über die ersten Coronavirusinfektionen in China berichtet wurde, war kaum absehbar, dass sich aus diesem Krankheitsausbruch eine weltweite Pandemie entwickeln würde. Anfangs glaubte man noch, dass sich die Ausbreitung des SARS-CoV-2 durch Isolierung der Erkrankten und Quarantänemaßnahmen für Verdachtsfälle stoppen lassen könne. Inzwischen ist klar, dass sich das Virus trotz aller drastischen Maßnahmen weltweit verbreiten wird. Kein Epidemiologe glaubt noch daran, dass es gelingen kann, das Virus durch Isolierung und Quarantäne vollständig zu eliminieren.

Die Frage, die sich angesichts der heutigen Situation vordringlich stellt, ist daher nicht die Frage, wie wir das Virus eliminieren können, sondern wie gelingt es, dass es möglichst wenig Schaden anrichtet. Hier gilt es, direkten Schaden durch Todesfälle, Arbeitsausfall oder Überlastung des Gesundheitssystems gegen indirekte Schäden wie die Folgen von sozialer Isolierung und Wirtschaftsstillstand abzuwägen. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Unklarheiten und den Mangel an Evidenz für die derzeit diskutierten und tatsächlich erfolgenden Maßnahmen darzustellen und als wichtigste Botschaft die Notwendigkeit aufzuzeigen, aus der derzeitigen Situation durch konsequente Forschung zuverlässige Daten für zukünftige ähnliche Ereignisse zu gewinnen. 

COVID-19 – Morbidität

Derzeit kommt es in vielen Ländern, so auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu einer Verdoppelung der diagnostizierten Fälle ca. alle 2 bis 2 ½ Tage [1]. Hochrechnungen prognostizieren, dass die Kapazitäten der Kliniken und Spitäler für die Versorgung der Erkrankten im deutschsprachigen Raum spätestens Anfang April erschöpft sein werden [2]. Ob die derzeit ergriffenen Maßnahmen das Szenario günstig beeinflussen, ist ungewiss. Der Anstieg an neuen Fällen konnte in China, Südkorea und Singapur, wo deutliche Suppressionsmaßnahmen ergriffen wurden, zumindest verlangsamt werden [1,2].

COVID-19-Letalität

Es gibt keine zuverlässigen Zahlen über die Letalität von COVID-19. Sicher ist, dass die simple Division der Anzahl der Todesfälle durch die Anzahl der nachgewiesenen Erkrankungen zu einer substantiellen Überschätzung der sogenannten "Case Fatality Rate" (CFR) führt. Nach den Real-Time-Angaben des Center for Systems Science and Engineering der Johns Hopkins Universität gab es zum 19.3.2020 218.824 durch den PCR-Schnelltest gesicherte Infektionen und 8.810 Todesfälle [3,4]. Dies entspräche einer CFR bzw. Letalität von 4,0%. Diese Zahl ist jedoch durch mehrere Fehler behaftet:

  • Da COVID-19 in der Mehrzahl der Fälle mit milden Erkältungssymptomen oder gar symptomfrei verläuft, werden mit großer Wahrscheinlichkeit nicht alle tatsächlich aufgetretenen Infektions­fälle erfasst, Todesfälle jedoch nahezu vollständig. Dies führt zu einer Überschätzung der CFR. Nach einer Studie mit 565 Japanern, die aus Wuhan evakuiert worden waren und alle getestet wurden (unabhängig vom Vorliegen von Symptomen) werden durch die derzeit praktizierte symptomorientierte COVID-19-Überwachung nur 9,2% der Infizierten entdeckt [5]. Das würde bedeuten, dass die Zahl der Infizierten voraussichtlich etwa 10-mal größer ist als die Zahl der erfassten Erkrankungen. Die CFR wäre dann nur etwa ein 10tel der aktuell gemessenen. Andere gehen von einer noch höheren Dunkelziffer aus, wodurch sich die CFR weiter senken würde.

  • Die Verfügbarkeit der SARS-CoV-2-Tests war und ist nicht überall gegeben. So ist beispielsweise in den USA erst seit 11.3.2020 eine ausreichende, staatlich finanzierte Testmöglichkeit für alle Verdachtsfälle vorhanden [6]. Auch in Deutschland bestanden teilweise Engpässe, die zu einer Überschätzung der CFR beitragen.

  • Mit zunehmender Verbreitung der Erkrankung wird es immer schwieriger, eine vermutete Infektionsquelle auszumachen. Dies führt dazu, dass banale Erkältungen nicht unbedingt mit COVID-19 in Verbindung gebracht werden und Betroffene deshalb gar nicht zum Arzt gehen.

  • Zu einer Überschätzung der CFR kommt es auch, wenn bei Verstorbenen eine Infektion mit SARS-CoV-2 zwar nachgewiesen wird, diese jedoch nicht den Tod herbeigeführt hat.

  • Ein Fehler, der andererseits zu einer Unterschätzung der CFR führt, ist, dass jeder Fall bereits ab dem Zeitpunkt der Diagnosestellung bei den Erkrankten mitgezählt wird, dass aber zu diesem Zeitpunkt noch nicht feststeht, ob der Erkrankte überleben wird. Den kumulativen Todesfällen müsste daher die Anzahl der bekannten Erkrankungen zum Zeitpunkt der Erstmanifestation der Erkrankung bei den Verstorbenen gegenübergestellt werden, d.h. die Anzahl der Erkrankungen etwa 14 Tage vor dem Todesdatum, wenn man davon ausgeht, dass Betroffene im Durchschnitt nach zweiwöchiger Erkrankungsdauer versterben. Die CFR betrüge dann je nach Land zwischen 5 und 15% [7].

Zudem variieren die CFRs stark von Land zu Land, was sowohl durch unvollständiges Erfassen der Fälle, z.B. aufgrund unterschiedlicher Vorgehensweise beim und Kapazitäten für das Testen, als auch durch die unterschiedlichen Möglichkeiten einer qualitativ hochwertigen intensivmedizinischen Versorgung bedingt sein kann. So sind beispielsweise von den 35.713 bestätigten Erkrankten in Italien 2978 (Stand 19.3.2020 [3]) verstorben, was einer CFR von 8,4% entspräche, während in Deutschland nur 28 von 12.327 verstorben sind (CFR 0,2%). Allerdings steht Deutschland im Gegensatz zu Italien erst am Anfang der exponentiellen Ausbreitung und die intensivmedizinische Kapazitätsgrenze spielt in Deutschland noch keine Rolle. Die weit divergierenden Zahlen machen deutlich, dass es derzeit noch nicht möglich ist, die CFR zuverlässig zu schätzen.

Was allerdings mit großer Zuverlässigkeit gesagt werden kann, ist, dass die Todesfälle in erster Linie ältere, vor allem hochbetagte Menschen mit vor allem kardiovaskulären und pulmonalen Vorerkrankungen betreffen. In einer Analyse, die im Februar 2020 vom chinesischen Center of Disease Control veröffentlicht wurde, waren 81% der an COVID-19 Verstorbenen über 60 Jahre alt [8]. Kein einziges der 416 Kinder <10 Jahren war unter den Todesfällen. Allerdings lag die CFR auch bei Betroffenen <60 Jahren bei 0,6%.

Etwas andere Zahlen finden sich in Italien. Hier gab es nur einen einzigen Verstorbenen unter 50 Jahren, während knapp 60% der Todesfälle Menschen >80 Jahre betrafen [9].

Im Gegensatz zu COVID-19 betrafen beispielsweise bei der Influenza-Pandemie 1918/19 fast 50% der Todesfälle die Altersgruppe 20-40 Jahre [10].

Auch Begleiterkrankungen stellen einen wesentlichen Risikofaktor dar. In der chinesischen Studie hatten 67,2% der Verstorbenen mindestens eine chronische Begleiterkrankung, am häufigsten Hypertonie (39,7%), eine kardiovaskuläre Erkrankung (22,7%), Diabetes mellitus (19,7%) und chronische Atemwegserkrankungen (7,9%) [8]. Personen ohne Vor- oder Begleiterkrankungen wiesen eine CFR von 0,9% auf. Auch hier unterscheidet sich COVID-19 deutlich von der Influenza-Pandemie 1918/19, in der viele junge Menschen ohne wesentliche Begleiterkrankungen verstorben sind [10].

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Schaden durch COVID-19-assoziierte vorzeitige Todesfälle beträchtlich ist und sehr wahrscheinlich noch drastisch ansteigen wird. Die derzeit für Deutschland gemessene CFR von 0,2% liegt jedoch unter den Daten des RKI errechneten CFRs für Influenza der Jahre 2017/18 von 0,5% [11] und von 2018/19 von 0,4% [12], allerdings über der weit verbreiteten Zahl von 0,1%, für die es keinen zuverlässigen Beleg gibt. Bedrohlicher als die CFR von COVID-19 selbst ist also die absolute Zahl der zu erwarteten Toten, wenn sich die Erkrankung mit Verdoppelungsraten von zwei bis drei Tagen weiter ausbreitet. Aus der Perspektive der EbM bleiben jedoch all diese Zahlen nur eingeschränkt verwertbar, wenn die Gesamtmortalität der Bevölkerung, die Gesamtkrankheitslast durch Influenza-like Infections sowie deren CFRs als Bezugsgröße fehlen.

Effektivität von nicht-pharmakologischen Interventionen (NPI)

An dieser Stelle sollen vor allem die derzeit praktizierten und angedachten Maßnahmen des "Social Distancing" erörtert werden, also staatliche Interventionen von der Schließung von Bildungseinrichtungen bis hin zur vollständigen Ausgangssperre.

Als historisches Beispiel für die Effektivität von NPI werden die unterschiedlichen Reaktionen amerikanischer Städte auf die Influenza-Pandemie 1918 angeführt. Während in St. Louis drei Tage nach dem Auftreten der ersten Influenza-Fälle bereits drastische Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung ergriffen wurden (Schließung von Schulen, Kirchen, Theatern, Lokalen, Absage öffentlicher Veranstaltungen u.a.), wurde in Philadelphia nach dem Ausbruch noch eine große Stadt-Parade durchgeführt und wirksame Containment-Maßnahmen erst zwei Wochen später implementiert [13]. Die Folgen waren dramatisch: In St. Louis erreichte die Todesfallrate in der Spitze 31/100.000 Einwohner, während diese in Philadelphia auf 257/100.000 Einwohner stieg und es als Folge zu einem Zusammenbruch der Gesundheitsversorgung kam. Auch die Gesamtzahl der Todesfälle lag mit 347/100.000 Einwohnern in St. Louis etwa bei der Hälfte von Philadelphia (719/100.000 Einwohner) [13]. Ob die Erfahrungen aus der Influenza-Pandemie 1918/19 allerdings auf COVID-19 übertragbar sind, ist vollkommen unklar. Die Tatsachen, dass damals hinsichtlich der Todesfälle vor allem junge Leute betroffen waren und dass weder Hygienestandards noch medizinische Versorgung 1918/19 mit heute vergleichbar sind, spricht eher gegen eine Übertragbarkeit.

Über die (eher fragwürdigen) Schlüsse aus dem historischen Beispiel hinaus gibt es wenig Evidenz, dass NPIs bei COVID-19 tatsächlich zu einer Verringerung der Gesamtmortalität führen. Ein Cochrane Review aus dem Jahr 2011 fand keine belastbare Evidenz für die Effektivität von Screening bei Grenzkontrollen oder Social Distancing, allerdings in erster Linie aufgrund fehlender Studien und mangelhafter Studienqualität [14]. Eine systematische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2015 findet moderate Evidenz für Schulschließungen, um die Ausbreitung einer Influenza-Epidemie zu verzögern, allerdings verbunden mit hohen Kosten. Isolation im Haushalt verlangsamt zwar die Ausbreitung, führt aber zur vermehrten Infektion von Familienangehörigen [15]. Bei all diesen Erkenntnissen stellt sich die Frage nach der Übertragbarkeit von der Influenza auf COVID-19.

Es ist gänzlich unklar, wie lange die NPIs aufrechterhalten werden müssen und welche Effekte in Abhängigkeit von Zeit und Intensität damit erzielt werden könnten. Möglicherweise wird die Zahl der Toten nur auf einen späteren Zeitpunkt verschoben, ohne dass sich an der Gesamtzahl etwas ändert. Im Gegensatz zur saisonal verlaufenden Grippe wissen wir nicht, wie sich SARS-CoV-2 weiter verhalten wird, ob das nahende Frühjahr auf der Nordhalbkugel zu einem natürlichen Stopp der Ausbreitung führen wird oder ob das Virus sich kontinuierlich und zeitlich unbegrenzt weiter ausbreiten wird, bis ein Großteil der Menschheit die Infektion durchgemacht hat und immun geworden ist. Letzteres erscheint derzeit eher wahrscheinlich.

In einer Modellrechnung der Arbeitsgruppe COVID-19 am Imperial College wird prognostiziert, dass die Durchführung radikaler NPIs – wie derzeit angestrebt bzw. schon umgesetzt – zu einer zweiten, ebenso gravierenden Pandemiewelle im Herbst 2020 führen könnte, wenn die NPIs nach drei Monaten gelockert werden [16]. Alternativ könnte eine "On-Off-Strategie" gefahren werden, die durchzuhalten wäre, bis etwa 60-70% der Bevölkerung die Erkrankung durchgemacht haben und immun geworden sind, und sich hierdurch eine Herdenimmunität entwickelt hat. Dies würde aber bedeuten, dass für etwa ein Jahr in Intervallen für insgesamt zwei Drittel der gesamten Zeit drastische NPIs in Kraft wären [16].

Mögliche indirekte Schäden durch COVID-19 und NPIs

Auch für die möglichen indirekten Schäden der Pandemie gibt es wenig Evidenz. Die Schäden durch die Pandemie gehen jedenfalls weit über die Todesfallrate hinaus. Durch die Erkrankung kommt es nicht nur zu einer gravierenden Belastung des Gesundheitssystems mit möglicherweise reduzierter oder schlechterer Versorgung der nicht an COVID-19 erkrankten Patienten, sondern auch zu Arbeitsausfällen großen Ausmaßes.

Andererseits haben die derzeit ergriffenen NPIs massive Auswirkungen, die weit über den wirtschaftlichen Einbruch und das Abstürzen der Aktienkurse hinausgehen. Welche psychischen und gesellschaftlichen Auswirkungen haben soziale Isolierung? Wie viele ausländische Betreuungskräfte wollen oder können aufgrund der Grenzschließung und der Auflagen zum Coronavirusschutz, wie der 14-tägigen Quarantäne nach Heimkehr, nicht mehr ihren Dienst bei unseren pflegebedürftigen älteren Menschen antreten und welche Auswirkungen hat das? Wie viele Arbeitsplätze werden verlorengehen, wie viele Unternehmen werden kollabieren? Wen werden die wirtschaftlichen Folgen am härtesten treffen? Werden die NPIs dazu beitragen, soziale Unterschiede zu vergrößern?

Das Schließen der Schulen mag die Transmissionsraten unter Kindern reduzieren, aber wird es wirklich helfen, die Pandemie zu stoppen und – das ist ja das wichtigste Ziel – die Todesraten zu senken? Werden die Kinder sich nicht außerhalb der Schule treffen, die Eltern in Ermangelung von Betreuung von der Arbeit abhalten und dann die Großeltern besuchen – und damit genau die Personengruppe einem Risiko aussetzen, die am meisten geschützt werden muss?

Es ist unmöglich, zum jetzigen Zeitpunkt abzuschätzen, ob durch unbeeinflusste rasche Ausbreitung der Erkrankung oder durch ein Hinauszögern der Ausbreitung und eine dadurch bedingte Verlängerung des gesamten Erkrankungszeitraums der größere Schaden angerichtet wird, der dann auch wieder indirekte Auswirkungen auf Gesundheit, Lebensqualität und Lebenserwartung haben kann.

Wo ist die Evidenz?

Viele Fragen bleiben offen. Wir sind einerseits mit den nackten Zahlen einer exponentiell steigenden Anzahl von Erkrankten und Toten weltweit konfrontiert, die uns die Medien tagtäglich in beängstigender Form vor Augen halten. Die mediale Berichterstattung berücksichtigt jedoch in keiner Weise die von uns geforderten Kriterien einer evidenzbasierten Risikokommunikation.

In den Medien werden aktuell die Rohdaten kommuniziert, etwa bisher gibt es "X" Infizierte und "Y" Todesfälle. Dabei wird nicht zwischen Diagnosen und Infektionen differenziert. Es handelt sich bei den gemeldeten Fällen jeweils um Diagnosen. Die Gesamtzahl der Infizierten ist jedoch nicht bekannt. Dazu bräuchte es eine vollständige Testung einer repräsentativen Stichprobe aus der Bevölkerung.

Die Nennung von Fällen ohne Bezugsgrößen ist irreführend. So werden beispielsweise für die einzelnen Länder, Bundesländer oder Regionen lediglich Rohdaten berichtet, ohne Bezug zur Bevölkerungsgröße. Die Angaben könnten sich jeweils auf 100.000 Einwohner beziehen.

Auch werden keine zeitlichen Bezugsgrößen genannt. So heißt es etwa "bisher gibt es 10.000 Fälle". Die Nennung von Rohdaten ohne Bezug zu anderen Todesursachen führt zur Überschätzung des Risikos. In Deutschland versterben etwa 2.500 Personen pro Tag. Die Angaben zu den Todesfällen durch Covid-19 sollten daher entweder die täglich oder wöchentlich verstorbenen Personen mit Angabe der Gesamttodesfälle in Deutschland berichten. Auch ein Bezug zu Todesfällen durch andere akute respiratorische Infektionen wäre angemessen.

Für den Hinweis, dass durch COVID-19 überwiegend ältere und kranke Menschen versterben, wäre ein Vergleich mit Personen sinnvoll, die an anderen akuten respiratorischen Erkrankungen versterben.

Die Frage, inwieweit es aus ethischer Sicht gerechtfertigt ist, nun in den Medien exemplarisch schwer verlaufende Einzelfälle zu berichten, ohne Einordnung in das Gesamtspektrum von Krankheit und Tod, sollte diskutiert werden.

Zudem bestehen bei den zur Verfügung stehenden Daten erhebliche Ungereimtheiten. Es ist vollkommen unklar, warum es gerade in Italien zu einer solch explosionsartigen Ausbreitung mit vielen Toten gekommen ist, und das nicht etwa in einer der ärmeren Regionen Italiens, sondern in der reichen Lombardei. Man kann dieses Geschehen sicher nicht einfach mit Verweis auf eine schlechtere medizinische Versorgung abtun, und auch ein Mangel an Messungen scheint in Italien nicht vorzuliegen.

Die Zahlen aus China sind wenig glaubwürdig. Dass in einem Land mit 1,4 Milliarden Menschen das "Containment" so gut funktioniert, dass sich plötzlich niemand mehr infiziert (25 Neuinfektionen im ganzen Land am 18.3., keine Neuinfektionen am 19.3.) [3], erscheint doch sehr unwahrscheinlich. Und was passiert, wenn die NPIs gelockert werden? Ansteckungsrate, Virulenz und Pathogenität des Virus ändern sich doch durch das Containment nicht. Das heißt, dann wird die Ausbreitung, wie im Report des Imperial College prognostiziert [16], wieder Fahrt aufnehmen und exponentiell fortschreiten, bis ca. 60 bis 70% der Bevölkerung infiziert wurden und dann immun sind. Oder wurde dieser Status in China bereits erreicht? Dann wären die 3.217 Toten (Stand 19.3.) [3] in Relation zu 1,4 Milliarden Bevölkerung allerdings weit unter der Todesfallrate der jährlichen Influenza, die wir bisher ohne drastische NPIs in Kauf nehmen.

Die bisher wenigen Todesfälle in z.B. Deutschland und Österreich sprechen ebenfalls eine andere Sprache. Wird hier im Fall von SARS-CoV-2 – im Gegensatz zur Influenza – einfach nur umfangreicher gemessen? 2017/18 sind in Deutschland 25.100 Menschen an Influenza verstorben [12]. Wenn man die vom RKI für 2017/18 errechnete CFR von 0,5% zugrunde legt, entspricht dies einer Anzahl von 5 Millionen Infizierten. Die Grippe-Saison dauerte laut Surveillance-Bericht des RKI von der 52. Kalenderwoche 2017 bis zur 14. Kalenderwoche 2018, also 15 Wochen [11]. Um innerhalb von 15 Wochen auf 5 Millionen zu kommen, müsste sich die Anzahl der Infizierten alle 4,4 Tage verdoppeln – ähnlich wie wir es jetzt bei SARS-CoV-2 sehen – nur bei der Influenza haben wir es nicht gemessen. Es gab jedenfalls 2017/18 keine Meldungen, dass unser Gesundheitssystem überlastet war, obwohl sicher alle 25.000 Grippetoten vor ihrem Tod medizinisch versorgt wurden, die meisten sicher stationär oder gar intensivmedizinisch.

Auch ein Vergleich zur diesjährigen Influenza-Aktivität könnte sinnvoll sein: Laut Wochenbericht 11 des RKI wurden bisher in dieser Saison 165.036 Influenzafälle labordiagnostisch bestätigt. 23.646 Fälle wurden wegen nachgewiesener Influenza hospitalisiert und 265 Personen sind an Influenza verstorben [17].

Der bekannte Epidemiologe John Ioannidis weist darauf hin, dass Coronaviren als typische Erreger von Erkältungskrankheiten jedes Jahr für Millionen von Infektionen verantwortlich sind und diese banalen Erkältungskrankheiten in bis zu 8% älterer, multimorbider Menschen mit Komplikationen wie Pneumonien tödlich enden [18,19]. Der einzige Unterschied zu SARS-CoV-2 könnte sein, dass wir Corona-Virus Infektionsraten bisher nie in der Bevölkerung gemessen haben.

Es ist vollkommen unklar, ob SARS-CoV-2 saisonalen Schwankungen unterliegen wird wie die Influenza, d.h., ob sich mit wärmeren Temperaturen die Ausbreitung verlangsamen oder gar zum Stillstand kommen wird. Es ist auch unklar, ob das Virus anders als Influenza-Viren antigenetisch stabil ist oder wie diese mutiert, sodass sich keine dauerhafte Immunität entwickeln kann.

Es ist weitgehend unklar, inwieweit sich die Containment-Maßnahmen tatsächlich auf den Verlauf der Epidemie auswirken. Die Hinweise, die wir aus den asiatischen Ländern haben, sind sicher nur bedingt auf Europa mit seiner liberalen Lebenseinstellung übertragbar. Und was passiert, wenn die NPIs wieder beendet werden? Die Hochrechnungen aus dem Imperial College stimmen hier eher pessimistisch und prognostizieren eine zweite Erkrankungswelle für den Spätherbst, selbst wenn die derzeitigen Maßnahmen drei Monate durchgehalten werden, oder die Notwendigkeit intervallartig wiederholter NPIs über zwei Drittel der Gesamtzeit für ein ganzes Jahr [16].

Des Weiteren stellt sich die Frage, ob die Bevölkerung als Ganzes eine Immunität gegen die Erkrankung aufbauen wird und wann. Wird die Erkrankung dann möglicherweise zu einer typischen Kinderkrankheit, d.h. jeder, der sie noch nicht hatte, macht sie irgendwann durch und ist dann fortan geschützt, oder wird es auf Dauer zu saisonalen Krankheitsausbrüchen kommen – ähnlich der Influenza? Ist SARS-CoV-2 ein antigenetisch stabiles Virus oder weist es ähnlich wie das Influenza-Virus eine hohe Variabilität auf? Ob und wann es eine effektive Impfung geben wird, ist derzeit kaum abschätzbar.

Fazit

Es gibt insgesamt noch sehr wenig belastbare Evidenz – weder zu COVID-19 selbst, noch zur Effektivität der derzeit ergriffenen Maßnahmen. Aber es ist nicht auszuschließen, dass die COVID-19 Pandemie eine ernstzunehmende Bedrohung darstellt, und NPIs – trotz weitgehend fehlender Evidenz – das einzige sind, was getan werden kann, wenn man nicht einfach nur zusehen und hoffen will. Selbst wenn man von der günstigsten Annahme ausgeht, dass die CFR letztendlich deutlich unter 1% zu liegen kommt (vor allem aufgrund der Nichterfassung asymptomatischer und milder Fälle) und in erster Linie ältere Menschen und Menschen mit Komorbiditäten betroffen sind, so ist dennoch aufgrund der raschen Ausbreitung der Erkrankung mit einer hohen Anzahl von Toten zu rechnen.

NPIs erscheinen unter Abwägen der Pro und Contra-Argumente derzeit sinnvoll, aber sie sollten nicht ohne akribische Begleitforschung durchgeführt werden. Hierfür ist es erforderlich jetzt neben der ohne Zweifel erforderlichen virologischen Grundlagenforschung umgehend Kohorten und Register aufzubauen, um für zukünftige Pandemie-Situationen wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse zu sammeln. Unter anderem ist es sinnvoll, Zufallsstichproben der Gesamtbevölkerung auf SARS-CoV-2 zu untersuchen, um die wahre Durchseuchungsrate zu erfassen. Zudem wäre es wichtig, die gesamte Infektions- und Krankheitslast durch "Influenza-like-Illness" sowie deren Folgen in einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe zu erfassen, ähnlich wie dies beispielsweise in der britischen Flu Watch Cohort Study gemacht wurde [20] und von John Ioannidis nachdrücklich gefordert wird [18].

Für diese Forschung im Versorgungs- und Public-Health-Bereich muss die öffentliche Hand ausreichend Forschungsmittel bereitstellen, um für drohende Pandemien in der Zukunft besser gewappnet zu sein. Die gerade erfolgten Ausschreibungen des BMBF (D) und der FFG (A) sind hier ausdrücklich zu begrüßen [21,22].

 

Literatur

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