Neue EbM-Kolumne zu dramatischen Effekten

29.06.2023. Am Beispiel Jodmangel erläutert Ingrid Mühlhauser in der aktuellen EbM-Kolumne, wann es kein RCT braucht und wann doch. Die Kolumne erscheint im Journal der KV Hamburg in der Ausgabe 07-08/2023.

Ohne Fallschirm ist ein Sprung aus dem Flieger nicht zu überleben. Die Wirksamkeit eines funktionsfähigen Fallschirms ist offensichtlich. Wir sprechen von einem dramatischen Effekt. Der Nutzennachweis braucht keine verblindete, randomisiert-kontrollierte Studie (RCT).
Unsinnigerweise wird das Fallschirmbeispiel immer wieder benutzt, um die Notwendigkeit von RCTs in Frage zu stellen oder die Evidenzbasierte Medizin zu diskreditieren.

Das Methodenhandbuch des IQWiG erläutert, wann dramatische Effekte RCTs überflüssig machen: Ist der Verlauf einer Erkrankung sicher oder nahezu sicher vorhersagbar und bestehen keine Behandlungsoptionen zur Beeinflussung dieses Verlaufs, so kann der Nutzen einer medizinischen Intervention auch durch die Beobachtung einer Umkehr des (quasi)deterministischen Verlaufs bei einer gut dokumentierten Serie von Patientinnen und Patienten abgeleitet werden (1).

Klassisches Beispiel ist die Insulinsubstitution bei Typ 1 Diabetes. Im Jahr 1922 wurde erstmals ein Kind mit Insulin behandelt. Innerhalb von vier Wochen hat sich das kachektische und moribunde Kind zu einem fröhlichen und gesunden Menschen entwickelt. Ohne Insulin können Menschen nicht leben. Vor der Entdeckung des Insulins sind die meist jungen Patient:innen oft schon innerhalb weniger Tage oder Wochen verstorben. Nur selten haben sie mehrere Monate überlebt.

Ein ähnliches Beispiel ist die Jodsubstitution zur Prävention einer schweren Entwicklungsstörung, die früher als „Kretinismus“ bezeichnet wurde. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts war schwerer Jodmangel eine weit verbreitete Plage in der Schweiz und anderen Alpenregionen. In besonders betroffenen Ortschaften litten 10 % der Kinder an Kretinismus. Sie kamen gehörlos und geistig schwer behindert zur Welt. Fast alle Schulkinder hatten abnorme Schwellungen des Halses, viele Erwachsene einen Kropf, manche eine monströse oder maligne Struma. Die Ursache für diese schreckliche Erkrankung war bis Anfang des letzten Jahrhunderts unbekannt.

Der Journalist Jonah Goodman hat in einem historischen Beitrag für die Zeitschrift „Das Magazin“ im Schweizer Tages-Anzeiger die bemerkenswerte Aufklärung dieses Rätsels spannend für die Leserschaft recherchiert und erzählt. Der Autor erhielt für diesen lesenswerten Beitrag den diesjährigen Journalistenpreis des Netzwerks Evidenzbasierte Medizin (2)...

 

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